01 Nov Tumor, Rollstuhl, aber immer noch Hoffnung
Da Nazimas Gründe für ihren Asylantrag grund so offensichtlich waren, konnten wir uns nicht vorstellen, dass da etwas schief gehen könnte, aber es kam anders. Fast neun Monate (!) war das Verfahren in der Schwebe, in der Zeit wurde sie in der Flüchtlingsunterkunft immer wieder von afghanischen Landsleuten und anderen Muslimen beschimpft, weil sie ihre Haare offen trug (!!!). Die Ungewissheit und die Sorge um ihre Familie – die nach Pakistan geflohen war, aber dort kein Visum mehr hatte – plus die vollkommene Ohnmacht in ihrer Situation drückten Nazima in schwere Depressionen. Nach der dann endlich erfolgten offiziellen Anhörung rief sie mich euphorisch an: die „Entscheiderin“ des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) hatte ihr die maximal möglichen drei Jahre Aufenthaltsgenehmigung zugesagt und – natürlich – politisches Asyl. Eine Woche später kassierte ein Beamter derselben Behörde die Entscheidung und kündigte die baldige Abschiebung nach Italien ein: Panik bei Nazima, Panik bei uns Helfern… die sich ein wenig legte, als sich herausstellte, dass die Regierung Meloni dermaßen migrantenfeindlich ist, dass sie keine eingereisten Flüchtlinge zurück nimmt. Die Abschiebung nach Italien werde nicht passieren, beruhigte uns sie Anwältin, aber Nazimas Depressionen wurden schlimmer, bis hin zu Lähmungserscheinungen auf der rechten Körperseite.
Am Ende – und mit Hilfe einer Anwältin, die aus den Spendengeldern bezahlen werden konnte – hob das Verwaltungsgericht den Abschiebungsbescheid auf und fällte das gleiche quasi salomonische Urteil, wie es in diesen Fällen üblich ist: Asylantrag abgelehnt, denn das Dublinabkommen ist nun mal gültiges Recht, dafür als politischer Flüchtling anerkannt und drei Jahre Aufenthaltsberechtigung, die gleiche Rechte wie bei gewährtem Asyl. Trotzdem eine Sch…situation, wie ich finde: wenn du nur bleiben darfst, weil die anderen dich nicht zurücknehmen wollen, wie soll sich da jemand fühlen? Wie eine abgelehnte amazon-retoure??!!
Ihre Familie hatte sich in der Zwischenzeit ebenfalls nach Deutschland durchgeschlagen, trotzdem ging es Nazima immer schlechter, die Depressionen nahmen zu, sie selbst nahm ab, dazu die rätselhaften Lähmungserscheinungen auf der rechten Körperseite. Was WAR das?! Als ein CT ohne Ergebnis bliebt, googelte sie ihre Symptome und als Diagnose stand dann da: „Vielleicht ein Hirntumor?“
Es handelte sich tatsächlich um einen Tumor, er hatte auch die Lähmungen verursacht, viel Zeit wäre nicht mehr gewesen. Der Tumor saß mitten im Gehirn, die riskante Operation gelang – und es handelte sich um einen gutartigen, also nicht metastasierenden Tumor. Die Lähmungen wurden aber erst einmal stärker. Aktuell – ich schreibe dies hier im Oktober ’23 – ist Nazima in einer Rehaklink in der Nähe von Frankfurt und sitzt im Rollstuhl: from bad to worse. Die Ärzte sind aber optimistisch, dass die Lähmungen vollständig zurück gehen werden. Welch ein aberwitzig dramatisches Schicksal: fast abgeschoben, endlich anerkannt und dann fast an einen Hirntumor krepiert, den sie selbst (!) mit Hilfe von Google (!!) diagnostiziert hat.
Als ihr in Leben in Kabul so richtig gut lief, ließ Nazima sich ein Tatoo stechen: No risk, no story. Sie hat es sich überschreiben lassen: „Enough story and enough risk this was!“, sagt sie. Das Interview, das Tim und ich mit ihr damals gedreht haben, ist übrigens so ziemlich das großartigste, was ich 25 Jahren als Filmer je führen durfte. Es steht auf Nazima.org.
Nazima lebt aktuell von staatlichen Leistungen, Spenden sind trotzdem hilfreich: es wäre doch schön, wenn genug zusammenkommt, dass sie irgendwann – wenn die Reha erfolgreich ist – mal ein paar Tage Skifahren gehen kann oder mal wieder zum Klettern an die Felsen kommt.